Ein Vertreter der psychologischen Betrachtungsweise von komplexen Systemen ist Dietrich Dörner. Er hat in vielen computerbasierten Planspielen herausgefunden, welche Strategien Menschen entwickeln, um mit Problemstellungen in komplexen Situationen umgehen zu können. Seine Erkenntnisse sind bereits in die obige allgemeine Beschreibung komplexer Systeme mit eingeflossen. Daher wird nur kurz auf die Definition Dörners eingegangen. Hier sollen vor allem die von Dörner herausgearbeiteten Problembereiche beim Handeln in komplexen Situationen beschrieben werden, da dort konkrete Anhaltspunkte für die weitere Bearbeitung der Fragestellung zu finden sind. Zu beachten ist, dass Dörner von „komplexen Situationen“[1] spricht, da sein Fokus speziell auf das Handeln liegt, was aufgrund seiner zeitlichen Dimension in Situationen stattfindet. Gleichzeitig spricht Dörner allerdings auch immer von Systemeigenschaften bzw. dem Handeln im System, so dass komplexe Situation und komplexes System synonym verwendet werden. Zudem sind seine Kriterien für komplexe Situationen identisch zu denen komplexer Systeme, so dass derselbe Sachverhalt nur aus einem anderen Blickwinkel untersucht wird: Komplexe Situation meint das Handeln in komplexen Systemen.
Dörner definiert ein komplexes System ebenfalls als ein viele sich wechselseitig beeinflussende Elemente besitzendes, stark vernetztes, intransparentes Geflecht, in dem aufgrund einer bestimmten Dynamik eine gleichzeitige Beachtung aller Komponenten und eine Prognosenbildung schwierig sind[2].
Eine wichtige Anmerkung mit Blick auf die Beurteilung eines komplexen Systems soll noch erwähnt werden: Es existiert kein Index wie die Richterskala, der angibt, wie komplex ein System ist[3]. Die Kriterien müssen zwar erfüllt sein, aber es kann durchaus sein, dass unterschiedliche Probanden ein System unterschiedlich beurteilen.
Relevante Bereiche in Dörners Modell
In Anlehnung an seine durchgeführten Planspiele und weitere Untersuchungen hat Dörner verschiedene Bereiche herausgearbeitet, die ein Arbeiten mit komplexen Systemen schwierig gestalten bzw. markant für diese sind. Für diese Bereiche hat er sowohl konkretes Fehlverhalten als auch mögliche Lösungsmöglichkeiten beschrieben. Zu beachten ist hier, dass diese Lösungswege keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit besitzen und dementsprechend ihre Anwendung immer auf den konkreten Fall hin überprüft und angepasst werden muss[4]. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die verschiedenen Bereiche nicht für sich alleinstehend sind, sondern dass es immer wieder Verbindungen untereinander gibt. Die Grenzen sind also fließend. Zudem gilt, dass diese Handlungsfelder bei jedem komplexen System unterschiedlich stark gefordert werden, so dass nicht pauschal gesagt werden kann, wie die notwendigen Kompetenzen verteilt sein müssen. Es geht Dörner vielmehr darum, dass diese Felder erkannt und beachtet werden, und dass die Fähigkeiten sich individuell dem System anpassen müssen.
Folgende Bereiche bestimmt Dörner in seinem Modell:
Zielsetzung
Dem Handeln sollte, gerade mit Blick auf Projekte, die ebenfalls ein komplexes System darstellen können, ein bestimmtes Ziel zugrunde liegen. Dieses Ziel darf dabei nicht zu allgemein gefasst sein. Im Idealfall ist es messbar. Oft handeln Menschen zwar im Glauben ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, das Ziel ist dabei jedoch so abstrakt gefasst, dass es nicht wirklich möglich ist, zu sagen, ob es erreicht worden ist bzw. werden kann. Ein Beispiel hierfür ist: höhere Lebensqualität im Stadtteil. Dabei kann zwischen positiven (dies soll erreicht werden) und negativen (dies soll abgeschafft werden) Zielen unterschieden werden. Positive Ziele sind dabei eher konkreter formuliert als negative, da bei diesen unklarer ist, was eigentlich erreicht werden soll[5].
Modellbildung
Wie in der allgemeinen Beschreibung bereits erwähnt, sind komplexe Systeme oft intransparent und schwer zu überblicken. Bei Problemstellungen in der Realität ist es daher ratsam, sich ein Bild, ein Modell, zu erstellen, um das Problem und die Lage des Problems innerhalb eines Systems abbilden zu können. Probleme sind meist nicht monokausal bedingt, so dass eine genauere Betrachtung von Ursachen und möglichen Auswirkungen des eigenen Handelns notwendig wird. Daher kommt der Modellbildung eine besonders wichtige Rolle zu. Bei der Arbeit mit einem komplexen System gibt es verschiedene Möglichkeiten, dieses abzubilden: Vernetzungskreise, Wirkungs- und Flussdiagramme sind nur drei Beispiele hierfür, aber es gibt natürlich noch weitere Varianten[6]. Hilfreich bei unbekannten Systemen kann dabei ein Analogieschluss sein, d.h. der Vergleich der vorhandenen Situation mit bereits bekannten Situationen[7].
Eine weitere häufig beobachtete Schwierigkeit ist hierbei, dass Modelle zwar gebildet werden, diese jedoch aufgrund fehlender oder ungenauer Informationsbeschaffung oder bereits falscher Annahmen über die Realität nur unzureichend das System abbilden. Das Modell kann dabei zu fein oder zu grob aufgelöst, die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen nicht, nur unzureichend oder sogar falsch dargestellt und Abläufe ungenügend abgebildet sein. Folglich sollte ein erstelltes Modell stets auf Fehler geprüft werden. Dabei muss für den Nutzer des Modells ersichtlich sein, wie die einzelnen Elemente sich gegenseitig beeinflussen. Weiterhin muss er wissen, wie die einzelnen Elemente eingebettet sind und in welche Bestandteile sie zerlegt werden können, damit Wechselwirkungen vorhergesehen, Aussagen über ein System beurteilt und Eingriffe in das System zielorientiert durchgeführt werden können[8].
Zeitabläufe
Nicht nur eine aktuelle Situation muss bei einem System erfasst und beurteilt werden können, sondern auch das Verhalten im Laufe der Zeit. Dörner hat hier in seinen Experimenten und Analysen historischer Ereignisse immer wieder festgestellt, dass Menschen sehr große Schwierigkeiten haben, Veränderungen vorhersagen zu können. Das Problem liegt oft darin, dass die Versuchspersonen keine Analyse von Verläufen durchführen, die Abläufe nicht grafisch darstellen (hier können sehr schnell Entwicklungen erkannt werden; Dörner spricht in diesem Zusammenhang von einer Zeitfigur, die zur Raumfigur wird) oder Informationen aufgrund einer bestimmten Einstellung nicht wahrnahmen, grundsätzlich jedoch (ausreichend) Informationen vorhanden sind[9]. Bei der Betrachtung von Zeitabläufen in Verbindung mit der Modellbildung sind Rückkoppelungen als besondere Beziehungsform hervorzuheben, da diese häufig Ursache für dramatische Veränderungen innerhalb eines Systems sein können[10]. Als kurzen Rat gibt Dörner an:
„Versuche die Ablaufcharakteristika des Prozesses zu erfassen! Mach dir dazu Notizen, damit du berücksichtigen kannst, was früher war, und du nicht nur dem Augenblick ausgeliefert bist! – Versuche zu antizipieren!“[11]
Planen
Die Einschätzung und Beurteilung von zeitlichen Abläufen ist besonders wichtig für die Planung von z.B. Systemänderungen. Für eine Planung ist es notwendig, das System gut zu kennen (Modellbildung), sich konkrete und messbare Ziele gesetzt zu haben und abschätzen zu können, wie sich das System während der Durchführung der einzelnen Schritte und auch im Anschluss verhalten wird. Bei der Planung ist es, ähnlich wie bei der Modellbildung, notwendig, sich ein Bild davon zu machen, wie sich Veränderungen an Punkt X auf Punkt Y oder sogar Punkt Z auswirken und was dafür getan werden muss. Weiterhin muss der Planende beachten, dass Änderungen verschiedene Auswirkungen haben können, so dass ein ganzes Geflecht von Möglichkeiten und Abläufen entstehen kann. Da natürlich nicht alle Möglichkeiten erfasst werden können, ist es immer notwendig, den Suchraum auf bestimmte einzugrenzen. Hinzu kommt auch, dass Menschen oft nicht in der Lage sind, (geplante) Abläufe zeitlich einschätzen zu können.[12].
Ein häufiger Fehler ist, dass Planung mit Handeln gleichgesetzt wird, d.h. es wird vielleicht nur der erste Schritt geplant, bevor gehandelt wird, aber nicht der gesamte Weg. Oder aber es wird sich in Verästelungen verfangen, so dass das Ziel schnell aus den Augen verloren wird. Ein ebenfalls nicht zu unterschätzendes Problem ist die Bearbeitung ähnlicher Aufgaben: Es kann ein Methodismus entstehen, der dazu führt, dass für eine Aufgabenstellung nicht mehr geplant, sondern ein alter Plan ungeprüft übernommen wird[13].
Die Gruppe
Als einen letzten Bereich kommt die soziale Komponente beim Handeln und Planen mit komplexen Systemen ins Spiel: Die Gruppe. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Affiliation. Dieses Bedürfnis kann bei der Bearbeitung von Problemen dazu führen, dass mögliche Konflikte vermieden werden oder eine Loyalität entsteht, die Kritik schönfärbt oder nicht zulässt. Gerade bei Unsicherheit wird Bestätigung in der Gruppe gesucht und es wird versucht, diese Bestätigung nicht zu gefährden. Die Harmonie in der Gruppe wird über das eigentliche Ziel (die Problemlösung, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe, etc.) gestellt und es wird nach Erfolgen gesucht, die das Gruppenverhalten als richtig darstellen. Misserfolge werden dabei gerne übersehen. Wichtig bei der Arbeit in der Gruppe ist demnach, reflektiert zu arbeiten, Kritik zuzulassen und auch anzubringen, ohne dabei die Gruppe in Frage zu stellen, d.h. Loyalität zu wahren[14]. Dabei sollte auch immer wieder der Blick nach außen gesucht werden, um nicht zu sehr in der eigenen Welt zu leben.
Zusammenfassung
Anhand Dörners Modell können folgende Bereiche bei der Arbeit mit komplexen Systemen festgemacht werden:
- Zielsetzung: Ziele sollten möglichst messbar definiert werden
- Modellbildung: richtigen Grad der Auflösung wählen; Elemente und deren Beziehungen korrekt und vollständig abbilden
- Zeitabläufe: Systeme möglichst lange beobachten und abbilden
- Planen: vollständigen Weg planen und mögliche Varianten beachten; nicht in Gewohnheiten verfallen
- Die Gruppe: reflektierte Zusammenarbeit; keine blinde Loyalität
Natürlich stellt sich bei der Formulierung solcher Hinweise die Frage, ob und wie dieses (Handlungs-)Wissen vermittelt werden kann. Hier bieten Planspiele die Möglichkeit, zeitliche Abläufe (vor allen langfristige Abläufe) und die damit verbundene Dynamik abzubilden und zu vermitteln, da in Planspielen diese Abläufe gerafft werden und somit ein Gefühl für die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen werden kann. Zudem kann bei Planspielen ein bereits bestehendes Modell sehr gut abgebildet werden, so dass die Probanden mit einem komplexen System und einer bestimmten Problemstellung konfrontiert werden. Es soll allerdings nicht behauptet werden, dass Civ IV ein Planspiel ist oder dass es ein Modell möglichst realitätsnah abbildet. Die Analyse des Spiels bezieht sich auf komplexe Systeme im Spiel und inwiefern hierüber Wissen vermittelt werden könnte.
Eine weitere hier erwähnenswerte Erkenntnis aus seiner Forschung hat Dörner ebenfalls erhalten: Erfahrung im Umgang mit Entscheidungen (Operative Intelligenz) ist weitaus wichtiger als das schlichte Erlernen von Handlungsmustern aus den hier vorgestellten Bereichen[15]. Die interessanten Aspekte mit Blick auf die Fragestellung, inwiefern und in welchen Bereichen Civilization IV Möglichkeiten bieten könnte, werden in Kapitel 4 erläutert. Vorher wird das Modell beschrieben, mit dem mögliche Wirkungen des Spiels untersucht werden können.
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[1] Dörner 2009, S. 58
[2] vgl. idem, S. 58-73
[3] vgl. Dörner 2009, S. 61f
[4] vgl. idem, S. 295ff
[5] vgl. idem, S. 74-86; vgl. Dörner/Reh/Stäudel 1994, S. 403-408
[6] vgl. Frischknecht-Tobler/Kunz/Nagel 2008, S. 23f
[7] vgl. Dörner/Reh/Stäudel 1994, S. 401ff
[8] vgl. Dörner 2009, S. 107-118; vgl. Dörner/Reh/Stäudel 1994, S. 399ff
[9] vgl. Dörner 2009, S. 156ff
[10] vgl. Dörner 1994, S. 112f
[11] Dörner 2009, S. 234
[12] vgl. Dörner/Reh/Städel 1994, S. 409-419
[13] vgl. Dörner 2009, S. 235-251
[14] vgl. idem, S. 276f und S. 291f
[15] vgl. Dörner 2009, S. 315f und S. 321-326